Kapitel 22:
Die Zwerge helfen einem Rehkitz, das seine Mutter verloren hat
Da nahmen alle Wichtels ihre Tarnkappen von ihren Köpfchen. Das Rehkitz zuckte zurück, denn es hatte noch nie so viele kleine Leute gesehen, zu denen es herunter schauen musste. Ihm war mulmig zu Mute und es wollte ins gegenüberliegende Feld flüchten. Die Zwerge blieben stehen, verhielten sich ruhig. Dem Gitti-Mädchen tat es sehr leid, weil das Kitz am ganzen Körper zitterte und bittere Tränen weinte. Die Zwerge fragten, warum es so traurig und verzweifelt wäre. Da wurde es zutraulicher und erzählte, dass seine Mutter kurz vorher von einem Traktor überfahren worden sei. An seinem rotbraunen Fell mit den weißen Punkten auf dem Rücken und an den Flanken hing Schmutz, der allmählich trocknete und abfiel. Eine Welt schien für ihn zusammengebrochen zu sein. Es fühlte sich elend und niedergedrückt. Seine Beine knickten ein und der Ohnmacht nahe, fiel das Kitz fast in den Graben, der neben dem Weg verlief. Während es auf dem Boden lag, streichelten die Knollennasen über sein Köpfchen, führten das ängstliche Waldtier zu einer klaren Quelle, die in der Nähe eines Haferfeldes lag. Dort stillte es erst einmal seinen großen Durst, den es durch den furchtbaren Schreck nicht mehr verspürt hatte. Gleichzeitig rieben Gitti und Miti den Schmutz von seinem geschwächten Körper. Dann trat Vater Wichtel auf den Plan und versprach, das unglückliche Wesen zu einem Rudel zu bringen. Aber vorher wollte er den unachtsamen Bauern aufsuchen und ihm einen Streich spielen. Dafür brauchte er Gänseeier, die er den brütenden Hühner unterlagen wollte. Mit diesem Vorschlag waren allesamt einverstanden.
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Nicht weit vom Bauernhof lag eine Gänsefarm und dort stibitzten sie die Gänseeier und legten dafür die kleineren Hühnereier, die sie schon mitgebracht hatten, in die Nester. Natürlich gackerte das Federvieh entsetzlich, als die unsichtbaren Zwerge die Ställe jeweils aufsuchten und ihren gefassten Entschluss durchführten. Die Bäuerinnen hörten das ungewöhnliche Geschrei und rannten in den dunklen Stall. Sie konnten nichts außergewöhnliches erkennen. Sie glaubten, ein Fuchs wäre in den Stall geschlichen und hätte das Federvieh aufgescheucht. Da das anscheinend nicht der Fall war, schauten sie in den einzelnen Nester nach. Beide Frauen wunderten sich zwar über die Größe der Eier, ließen sie jedoch liegen. Langsam beruhigten sich die Hennen und setzten sich zum Brüten auf ihre Nester. Da es anfing dunkel zu werden, übernachteten die Zwerge mit dem Kitz in einer großzügigeren Behausung. Sie verpflegten es, machten ihm ein weiches Lager zurecht, damit das Jungtier sich erholen konnte. Der Eingang des Unterschlupfs wurde mit getrocknetem Gras locker zugestopft, um alle vor der kommenden kühleren Nacht zu schützen. Schon in der Abendstunde wurde die bleiche Sichel des Mondes am Firmament sichtbar und verhieß eine klare Nacht.
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Nach dem die kleinen Leutchen und das Kitz ausgeschlafen und ihre Bäuche vollgeschlagen hatten, machten sie sich auf den Weg, das Rudel Rehe zu suchen, zu dem das junge Wesen gehörte. Keiner von ihnen wusste, wo die Waldtiere sich aufhielten. So nahm man den Pfad, der am Tannenwald entlang führte. Und siehe da, an einer ausgeholzten Stelle stießen die Wichtels auf das Rudel, das gerade beim Äsen war. Das Kitz sprang und hüpfte vor Freude als es seine Freunde sah. Das junge Tier wurde befühlt und beschnuppert. Dann erst nahmen es seine Artgenossen auf. Die Zwerge waren stolz und erleichtert, dass die Rehe sich seiner annahmen.
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Nun konnten die Zwilche beruhigt zu dem Weiler zurück pilgern. Hier blieben sie die nächste Zeit, denn sie wollten dabei sein, wie der Bauer darauf reagiert, wenn statt Hühnerküken kleine flaumige Gänseküken aus den Eiern schlüpften. Nach ein paar Tagen war es soweit. Die Hühner rasten den watschelnden Gänseküken nach. Die Gänse begriffen das Verhalten der winzigen Hühnerküken nicht, die lediglich Körner picken wollten. Was tun, fragten sich die Bauern, die ebenso überrascht waren. Die Wichtels sahen mit Genugtuung wie die Bäuerinnen die Küken einfingen und in mit Stroh ausgelegten Kisten taten. Sie tauschten diese einander aus. Damit war jeglicher Schaden behoben. Herr Wichtel, der wie wir alle wissen, jedem Streit abhold war, betonte im Brustton der Überzeugung, dass es stets eine friedliche Lösung gibt, obwohl er selbst fast einen Zwist zwischen den Menschen ausgelöst hätte.
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Kapitel 23:
Die steinernen Zwerge und der böse Traum
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