Kapitel 33:
Lisa wird wieder Gesund und will eine nächtliche Wanderung machen
Die kleine Plaudertasche redete unaufhörlich weiter über das, was sie bei der Arztfamilie erlebte und beobachtete. Zeitweise, so schilderte sie, wurde sie mit ihrem Bettchen zwischen riesigen Pflanzen auf eine breite Fensterbank gestellt. Daneben stand auch ein großer Käfig, in dem ein Hamster wohnte, der tagsüber schlief und gegen Abend in ein Laufrad kletterte, dass er stundenlang in Gang hielt. Dann gab es noch einen zweiten Käfig, worin ein gelb gefiederter Kanarienvogel von einer Stange zur anderen hüpfte. Der Piepmatz sang sein gesamtes Repertoire. Zwischendurch pickte er in den Körnern herum. Sehr oft blickte Lisa zum Fenster hinaus in die weite, grüne Landschaft. Sie sah mit jedem Morgen die Sonne ein wenig früher im Osten aufgehen. Rasch taute der Schnee. Es wurde wärmer. Aus den Zwiebeln trieben die weißen, gelben und blauen Blümchen. Ein zarter Duft durchströmte den Wald. Unsere Wichtels ließen sich nach dem langen, entbehrungsreichen Winter die saftreichen Kräuter und Pflanzen, die den dunklen Waldboden in der Vorfrühlingszeit ergrünen ließen, schmecken. Das Zwergenvölkchen hatte derweil mit Lisa ihre unterirdischen Heimstätten erreicht. Ein junges Reh trug sie bis dahin auf dem Rücken. Hier nahm man sie vorsichtig herunter und brachte sie vor den Eingang ihrer Höhle. Jedoch, das kleine Mädchen hatte keine große Lust in den Bau hineinzukriechen, um sich weiterhin auszuruhen. Unerwartet hielt sie mit dem Sprechen inne und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Das kleine Völkchen, das um sie herum saß und ihr zuhörte wurde stutzig. Sie fragten: „Was ist los, Lisa? Fühlst du dich hier bei uns nicht mehr wohl?“ „Nein, im Gegenteil!“, antwortete die kleine Göre, „ich bin froh bei Euch zu sein. Auch habe ich Euch erzählt, dass für mich die Mutter des Jungen alles mögliche tat, damit ich wieder gesund wurde. Sie stellte mich stets nach einer Wundbehandlung an das große Fenster zurück. Ich sollte wie eine Pflanze viel Licht bekommen. Wie ich da so lag und meine Blicke in die Ferne schweiften, entdeckte ich auf der Anhöhe eine halbverfallene Burg. Ich konnte nicht umhin, Hänschen zu fragen, ob dort oben Leute wohnten. Da schüttelte er den Kopf und sein Gesicht wurde kreidebleich. Wieder fing er an zu stottern. Er erklärte mir ganz knapp, dass in dieser Burgruine ein uraltes Gespenst lebe, dass nachts die ganze Umgebung in Angst und Schrecken versetze.“
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Als Lisa davon erfuhr, wurde sie hellwach. Ihre Äugelchen leuchteten wie kleine Sternchen während sie diese Neuigkeit ihrem Zwergenstamm mitteilte. Deshalb schlug sie vor: „Wir sollten mal diese Burgruine besichtigen und den Burggeist ein bisschen ärgern. Mal sehen wie er darauf reagiert. Natürlich geht das nur um Mitternacht.“ Das Wichtelmännchen wandte all seine Überredungskunst an, die Zwilche zu diesem Abenteuer zu überreden. Aber man wollte nicht so recht, weil ein solches Unternehmen zu gewagt sei. Auf dem Weg dorthin könnte im Dunkeln allerlei geschehen. Die risikofreudige Lisa war von ihren Freunden enttäuscht und wollt darauf hin auf eigene Faust losziehen. Das jedoch verhindert Herr Wichtel. „Lisa, sei doch vernünftig“, meinte er. „Hast du noch nicht genug vom letzten Mal, du hattest dein Leben aufs Spiel gesetzt. Warum bis du nicht wie Gitti und Miti? Warum hältst du an dem Gedanken fest, zur Burg gehen zu wollen? Nur, um eine gruselige Nachricht zu erleben? Lisa, überlege es dir nochmal.“
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Als das Querköpfchen nicht nachgab, entschloss sich ein Teil der Zwerge Lisa zu begleiten und mit ihr das Gruselkabinett aufzusuchen. Noch am selben Abend war es soweit. Man versammelte sich vor der Höhle des Zwergenlehrers. Er gab noch ein paar Hinweise, die für die nächtliche Wanderung zu beachten waren. Danach ging es los. Fast zwei Stunden brauchten die Knirpse ehe sie ihr Ziele erreichten. Manche von ihnen mussten ständig ermahnt werden, bei der Gruppe zu bleiben. Je mehr sie sich der Burg näherten, desto unheimlicher erschien ihnen die Umgebung. Bläulich flimmernde Lichter, die durch die aufsteigende Nebelwand leuchteten, säumten den Pfad, der zur Bergruine führte Selbst der Mond schien sich zu fürchten und versteckte sich hinter grauen Wolken. Tapfer, wenn auch etwas ängstlich, durchschritten die Waldbewohner das verfallene, offene Burgtor. Hier zeigte sich zum ersten Mal das durchsichtige Gespenst. Es trug ein langes, weites Gewand, das trotz Windstille stets flatterte. Einer von den schwarzen Vögeln hatte sich auf sein Schultern niedergelassen und krächzte ein Schauer erregendes Klagelied. Der Waldkauz, der in einer Baumhöhle nistete, flog unruhig hin und her. Sein Reviergesang, dass huuu-huuuuuuu, hörte sich unheimlich an. Ein anderer Vogel wurde aufgescheucht und mischte sich ein: Der Turmfalke, dessen ki-ki-ki-ki unseren kleinen Freunden verriet, dass sein Weibchen hoch im Burgturm sitzt und die Eier ausbrütet.
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Eine alte Kirchturmuhr im nahegelegenen Dorf schlug Zwölf. Das war die Zeit, in der die Wichtels dem Gespenst auf den Leib rücken konnten. Mit den Fragen: „Wer bist du?“ und „Warum findest du keine Ruhe“ war es überfordert. Ziemlich gereizt versuchte die Spukgestalt sich zu entfernen. Aber einer der Knilche hielt sie am Zipfel ihres seidenen Umhangs fest und sprach: „Wir wollen dir nichts Böses tun, bitte verrate uns, was vor vielen, vielen Jahren passiert ist, dass du verdammst wurdest, ewig in der schrecklichen Düsternis umherzuwandeln.“ „Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte das Gespenst, „ich habe um 1800 gelebt. Als kleiner Junge interessierte ich mich für außergewöhnliche Dinge wie die Zauberei. Nachts, wenn Vater, Mutter und das Personal schliefen, stieg ich aus dem Fenster und rutschte an einem dicken, langen Seil, das an einem Haken befestigt war, herunter. Damit niemand meine nächtlichen Ausflüge, in denen ich im Wald Dämonen treffen wollte, bemerkte, ließ ich mich in eine Hecke fallen, kroch unter diesem Strauch und blieb dort eine Weile, bis ich sicher war, dass ich keinen der Schlafenden gestört hatte.“
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Lisa begleitet das Gespenst auf seinem letzten Weg
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