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Kapitel 34:
Lisa begleitet das Gespenst auf seinem letzten Weg

„Eines Abends stand ein kleiner Kobold vor mir. Ich fürchtete mich sehr. Da erhob der seine Arme, grinste und sprach: „Keine Angst, ich bin gekommen, um dich an eine Stelle zu führen, wo ein großer berühmter Zauberer wohnt. Er weiß, dass du ein talentierter Magier bist und möchte dir noch einige Tricks beibringen. Allerdings müsstest du eine lange Zeit mit ihm zusammen sein.“ Das Gespenst stockte inmitten seiner Erzählung und schrie wie von Sinnen: „Was rede ich daher, das geht Euch Zwergenvolk überhaupt nichts an. Haut ab, verschwindet und lasst Euch nicht mehr hier sehen.“ Die Wichtels entsetzten sich sehr über den plötzlichen Sinneswandels des Geistes. Sie schimpften mit Lisa, die sie überredet hatte, den Spuk mitzumachen. Die Zwerge zogen sich zurück, setzten ihre Tarnkappen auf und beobachteten aus einem Hinterhalt wie Geistesgestalt tobte und schrie.

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„Ich bin das ewige umherwandeln satt. Der über mich ausgesprochene Fluch war nicht fair. Ich will endlich meine ewige Ruhe finden. Da kann mit nur jemand helfen, der nicht ängstlich ist und sich nicht fürchtet, mit mir durch das unterirdische Burggewölbe zu den dahinter liegenden Gräbern zu gehen.“ Als Lisa das Selbstgespräch vernahm, tat ihr das Gespenst leid. Sie war bereit, ihm zu helfen, eben weil sie mutig war. Frau Wichtele sorgte sich verständlicherweise um ihre Tochter, die diese unheimliche Aufgabe übernehmen wollte, dem Geist den letzten Wunsch zu erfüllen. Die Zwergen rieten ihr von diesem schauerlichen Gang in das Totenreich ab. Wieder ließ sich die furchtlose Gör nicht beeinflussen, schüttelte ihr eigensinniges Köpfchen ein paar Mal nach links und rechts und von rechts nach links und setzte spontan entgegen: „Nein, ich werde ihm helfen, in die ewigen Gründe zu gehen, damit er ein würdiges Ende findet. Stellt Euch doch vor, ihr würdet verdammt sein, ewig herumspuken zum müssen, was würdet ihr denn machen? Also, lasst mich zu ihm gehen. Ich komme wieder, glaubt es mir.“ Das Gespenst verstand Lisas Gespräch mit den Wichtels. Unerwartet trat Ruhe und Frieden in seine Seele ein, sein Gewand bekam eine dunkle Farbe. Das war für das Mädchen ein Zeichen zu der Spukgestalt hinüber zu gehen. Ihre Kumpanen versuchten sie zurückzuhalten. Es klappte nicht mehr.

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Der Geist zog sie magisch an. Ihre Augen waren einzig und allein auf ihn gerichtet. Ihre Tarnkappe zog sie vom Kopf. Wie im Trance-Zustand unterwarf sie sich ihm ohne sich noch einmal umzudrehen. Als sie in seiner unmittelbaren Nähe war, nahm das Gespenst sie an der Hand und brachte sie zu einer stillgelegten Mine, deren Eingang im düsteren Wald lag und zu unterirdischen Stollen führte. Finsternis und Totenstille umgaben sie in diesen Gewölben. Nun mehr standen sie vor einer mit staubigen Spinnengeweben übersäten Eisentüre. Diese musste geöffnet werden, aber wie? Lisa erreichte wegen ihre Größe nicht den Türriegel. Dem Gespenst blieb nicht anderen übrig als ohne jemanden Hilfe zu versuchen, das Schloss zu entriegeln, wozu sehr viel Kraft und Geduld erforderlich war. Endlich, es war kurz vor Mitternacht, öffnete sich die Tür. Sie quietschte und krachte so gruselig in den Angeln, dass sogar der Geist erschrak. Ein Schwarm blutgieriger Vampire flog ihnen entgegen. Das Zwergenmädchen versteckte sich geschwind unter das wehende Kleid der Spukgestalt, die nur Abscheu für diese blutrünstigen Viecher empfand und verjagte sie mit zuckenden Blitzen. Danach konnten sie ungehindert ihren Weg durch ehemalige Schächte fortsetzen.

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Lisa sah zum ersten Male Tiere, die unter der Erde in der Dunkelheit leben. Sie hatte überhaupt keine Angst, denn ihr Begleiter beschützte sie. Er hatte nur einen Gedanken, hin zu den Gräbern seiner Ahnen, wo er seine letzte Ruhe finden wollte. Seine Gefährtin war das Wesen, dass ihm diese Möglichkeit bot. Deshalb hütete er sie wie einen Augapfel, in dem er ausnahmslos jeden Bösewicht, der sich ihr näherte und sie belästigen wollte, verfolgte. Das Töchterchen von Frau Wichtele spürte seine Zuneigung. Sie liefen durch unendlich lange Gänge bis sie in der Ferne eine riesengroße Öffnung erblickten. Das Gespenst und die kleine Lisa waren erleichtert. Ganz plötzlich erhob sich die Spukgestalt und schwebte zusammen mit dem Görchen dem Ausgang zu – hinaus in die stockdunkle Nacht. Undurchdringlicher weißer Nebel hatte die Grabstätten verhüllt. Man konnte nur über eine kurze Entfernung hin den schmalen Pfad erkennen. Kreischende Dämonen hielten sich in der Nebelwand verborgen. wobei sie winzige Kieselsteine durch die Gegend warfen. Sie versuchten mit aller Macht das Gespenst in die falsche Richtung zu führen. Aber der schon tote Geist ließ sich nicht beirren. Beharrlich und ruhig strebte er dem Friedhof zu, wo seine Ahnen begraben lagen. Zuvor setzte er das Zwergenmädchen liebevoll auf einem mossigen Baumstumpf ab, da er seinen letzten Weg alleine fortsetzen wollte. Was dann geschah, war für Lisa wie ein Film. Das Gespenst führte einen temperamentvollen Freudentanz auf, drehte eine Pirouette und fegte sogleich wie ein Wirbelwind davon, um letztendlich in das Totenreich zu gelangen. Langsam wich der dichte Nebel. Lächelnd trat der bleiche Mond hinter den Wolken hervor, schien hell und klar. Im Schein des silbrigen Lichts warteten schon die Wichtels und waren glücklich ihr Lisa-Mädchen wieder zu haben.

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Kapitel 35:

Die Zwerge werden im Schlaf gestört

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