Kapitel 36:
Die Entführung
Im Handumdrehen verbreitete sich die schlimme Nachricht. So erfuhr das zu hause gebliebene Zwergenvölkchen bereits vor dem Eintreffen der nächtlichen Wanderer von der Entführung. Frau Wichtele konnte nicht verstehen, dass ihrer Lisa so viel Böses widerfuhr. Sie war sehr betroffen. Zu dem Zeitpunkt waren die Jungens auf dem Weg zu den Unterschlüpfen der Waldleutchen. Die Zwerge hatten sie auf die Schulter genommen. Traurig, noch benommen vom Schreck, kamen sie an. Sie sprachen kein einziges Wort und schienen innerlich zur Salzsäule erstarrt zu sein. Der Vater von Miti und Titi umarmte stumm Frau Wichtele. Vorbereiteter Tee wurde in winzigen Fruchtbechern, der den unteren Teil der Eichel umgibt, zur Beruhigung gereicht. Die Jungens hatten noch eine schwere Aufgabe vor sich. Sie wussten nicht, wie sie den Eltern von Hänschen dieses unglaubliche Erlebnis, dessen einziger Beweis, die am Ort des Geschehens liegen gebliebene Mütze war, beibringen sollten. Nun, wie dem auch sei, sie hatten die unangenehme Pflicht ihnen von der Verschleppung zu berichten.
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Allein der Weg zum Hause des Tierarztes hatte seine Tücken. Ständig stolperten die Kinder über Äste und Steine, weil sie nur an ihren Freund dachten, der durch ihre Unaufmerksamkeit, wie sie meinten, geraubt worden war. Schweren Herzens und schuldbeladen standen die Burschen vor der Haustür. Sie brauchten nicht zu klopfen oder auf eine Klingel zu drücken, da die Tür offen stand. Ein rotbrauner Kater und ein Schäferhund kamen ihnen entgegen. Sie wurden beschnuppert und Hänschens Mütze riss der Hund ihnen aus der Hand. Darauf hin verschwand dieser mit der Kopfbedeckung in den Garten. Ein entsetzlicher Schrei, der den Jungens das Blut in den Adern erstarren ließ, war zu hören. Die Mutter von Hänschen kam in das Haus gestürmt. Blass und aufgeregt empfing sie die verstörten Buben, die ihr den Zwischenfall stammelnd darstellten. Nun kam auch der Vater aus der Praxis gelaufen. Mit seiner gefassten Art wirkte er entspannend auf das Grüppchen, das um ihn herum stand. „Wir müssen jetzt ruhig bleiben, so bedauerlich es für Hänschen, Lisa und uns ist“, sagte er, „und überlegen, was zu tun ist.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da wurde der Himmel grau und schwarz. Der Wind nahm an Stärke zu und der Regen fiel in Strähnen auf die Erde herab. Die Front des Gewitters war schwefelgelb. Dazwischen tauchte ein ähnliches Ungetüm auf wie bei der Entführung, speite Feuer, um den unten stehenden Menschen Furcht einzujagen. Zum Glück gelang es ihm nicht ganz. Dabei kam er zu Fall und verhedderte sich im Maschendraht des Zauns. Sofort griff der Arzt ein und warf ein schwarzes Tuch über das Tier, was ihm gar nicht behagte. Mit einer Betäubungsspritze wurde dieses Biest ruhig gestellt. Das Feuer aus dem Schnabel erlosch. Nun konnte sich der Mediziner den Vogel genau betrachten. Das Riesentier besaß eine Flugspannweite von 3,50 Meter. An den Federspitzen befanden sich rote Kügelchen, die wie Dioden leuchteten. „Komisch“, dachte er, „das ist doch ein gezüchtetes Lebewesen. In der freien Wildbahn haben diese Tiere doch überhaupt keine Überlebenschance. Sind Sie vielleicht gentechnisch verändert? Gibt es so etwas wie ein Versuchslabor aus dem der Vogel ausgebüchst ist?“
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Wie er so gedankenvoll das Urviech betrachtete, tauchte ein zweiter Vogel auf, ebenso unnatürlich wie der erste, stürzte sich auf den Hundezwinger. Die Landung verlief nicht glimpflich. Seine Schwimmhäute zwischen den Krallen wurden bei dem Aufprall verletzt. Das Monstrum stieß einen schrillen Schrei aus und war direkt wieder weg. In der Zwischenzeit holte der Doktor eine Digitalkamera aus seinem Untersuchungsraum und klemmte sie dem narkotisierten Vogel unter sein Federkleid. Durch die Aufnahmen, die sodann auf einen Monitor übertragen werden, wollte man sich Aufschlüsse über sein Verhalten verschaffen und den Ort erfahren, wo sein Nest sich befand. Alle halfen bei dem leichten Eingriff mit. Allmählich wachte der Vogel aus der Narkose auf. Schnell wurde die Tür des Käfigs geöffnet und jeder nahm Schutz hinter einer Hecke des Hauses. Von dort beobachteten Hänschens Vater und seine Freunde gespannt wie das Tier reagierte. Zunächst streckte und reckte es sich und ohne zu zögern schoss es fauchend aus seinem Gefängnis. Auf dem Monitor sah man ihn über mehrere Dörfer fliegen. Schließlich landete es auf einem Baum, der im Hofe eines ausgedienten Bauernhofes stand. Ein glatzköpfiger Mann eilte mit einem gefüllten Fressnapf nach draußen, um ihn anzulocken. Obwohl sein Freiheitsdrang sehr groß war, vermochte das grässliche Wesen dem angebotenen Futter nicht zu widerstehen, denn es hatte während seiner Gefangenschaft fast nichts derartiges bekommen. Auf dem Bildschirm erkannte der Tierarzt seinen ehemaligen Kollegen. Misstrauisch tastete dieser den Vogel ab, wobei er das Aufnahmegerät entdeckte. Bleich vor Schreck und mit zitternden Händen entfernte der Mann den Apparat und warf ihn zu Boden. Damit war die Funkverbindung unterbrochen. „Jetzt wissen wir, dass unser Bub und Lisa in höchster Gefahr sind. Wir müssen sofort handeln“, gab der Tierarzt zu bedenken, „lasst doch noch einmal den Film ablaufen, damit wir uns die genaue Lage des alten Gehöftes anschauen und merken können.“ Unterdessen war Herr Wichtel mit seinen Gefolge eingetroffen.
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In höchster Not erschienen die Befreier
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